Schatten der Vergangenheit

2. Juni 2025

Jonas war schon immer ein Träumer. Doch in letzter Zeit wurde der Übergang von Traum zu Realität immer schwerer zu erkennen. Besonders, wenn er das Mädchen in seinen Träumen sah. Ihre blauen Augen, die Angst in ihrem Blick. Ihre verzweifelte Flucht, als sie aus seinem Haus verschwand (ein Ort, den sie scheinbar zu kennen schien). Das Mädchen war in seinen Albträumen immer wieder erschienen und jedes Mal war es das Gleiche. Sie lief weg, als ob sie vor etwas flüchtete, doch er konnte sie nie erreichen.

Er erinnerte sich vage an sie, aus seiner Kindheit. Sie war viel älter als er, eine aus dem Dorf. An ihre freundlichen Worte konnte er sich erinnern, an das Lächeln. Jahre vergingen, und er vergass sie. Bis sie letztens wieder in seinen Träumen auftauchte. Doch dieses begegnen war anders. Sie war seit 5 Jahren tot. Ermordet. Und niemand wollte davon sprechen.

Der Albtraum, der ihn verfolgte, wurde immer intensiver, immer realistischer. Es war, als würde das Mädchen ihm etwas mitteilen wollen, als würde sie ihn um Hilfe bitten. Doch warum jetzt? Warum, nachdem so viele Jahre vergangen waren?

Als Jonas mit seiner Familie in das alte Haus zog wusste er nicht, dass es ihr Haus war. Ein grosses, düsteres Gebäude inmitten eines Waldes, dass die perfekte Kulisse für ein neues Leben bot. Doch für Jonas war es nie ein Ort des Friedens. Irgendetwas war seltsam. Die Atmosphäre, die Luft, die Stille alles fühlte sich komisch an.

Eines Nachts, nach einem besonders intensiven Albtraum, wachte Jonas auf und hörte ein Geräusch. Es war ein leises, fast verzweifeltes Geräusch, dass aus dem tiefen Inneren des Hauses zu kommen schien. Neugierig ging er den dunklen Korridor entlang, der ihn zu einer Wand führte, die ihm merkwürdig glatt vorkam. Eine Wand, die er noch nie bemerkt hatte. Als er sie berührte, gab sie unter seinen Fingern nach. Hinter der Wand verbarg sich eine Tür.

Der Raum dahinter war noch seltsamer. Staub lag auf den Möbeln, das Bett war unberührt, der Schreibtisch mit Notizen bedeckt. Aber etwas anderes fiel ihm auf: Ein Tagebuch lag am Fuss des Bettes. Das Schloss war offen. Wer hatte es geöffnet? Und warum?

Jonas nahm das Tagebuch in die Hand. Die ersten Seiten waren unschuldig, doch dann wurde die Schrift hastiger, die Worte düsterer. Sie schrieb von einem Mann, Liam, der sie verfolgte, und von ihrer Angst. Der letzte Eintrag war unvollständig: „Ich habe Angst, Liam. Sie wissen-“ Ein kaltes Gefühl überkam Jonas. Was wusste sie? War sie deshalb tot?

In der folgenden Nacht träumte Jonas wieder von ihr. Sie rannte durch sein Haus, als ob sie vor etwas davonlief. Ihre Schritte waren hastig, und sie schien nicht zu wissen, wohin sie fliehen sollte. „Hey! Warte! Wer bist du? “, rief er verzweifelt. Doch sie reagierte nicht. „Brauchst du Hilfe?“, versuchte er es erneut. Diesmal blieb sie stehen und drehte sich um. Ihre Augen, weit aufgerissen, verrieten mehr Angst als er je gesehen hatte.

„Mein Name ist Jonas, ich will nur helfen. Brauchst du Hilfe?“, fragte er. Sie nickte, drehte sich jedoch wieder um und lief weiter. „Stopp!“, rief Jonas verzweifelt. Sie drehte sich erneut um, und diesmal konnte er den Ausdruck in ihren Augen klar erkennen: Panik. Ein Gefühl, das ihn nicht losliess.

Dieser Traum war mehr als nur ein Traum. Es war eine Botschaft aus der Vergangenheit, die er entschlüsseln musste.

Er wusste nun, dass das Mädchen ihn auf die Suche nach der Wahrheit führte. Doch niemand in der Stadt wollte ihm helfen. Niemand nahm ihn ernst. Die Menschen in der Stadt wirkten jedes Mal nervös, als er nach ihr fragte. Doch niemand sagte etwas. Sie wussten etwas, aber sie hüllten sich in Schweigen. Die Menschen in der Stadt wollten nicht über den Mord sprechen sie wollten nicht, dass die Wahrheit ans Licht kam.

Jonas war fest entschlossen, die Wahrheit herauszufinden. Doch Zweifel nagte an ihm. Hatte er eine Chance?

An einem regnerischen Abend, als Jonas durch den Wald hinter seinem Haus ging, hörte er plötzlich Schritte hinter sich. Er drehte sich um, doch niemand war da. Ein Schauer lief ihm über den Rücken. Jemand war immer noch da, Jemand, den er nicht unterschätzen konnte.

Er rannte zurück ins Haus und stellte sich vor den Spiegel. In diesem Moment, als er seine eigenen Augen betrachtete, erinnerte er sich an eine Wahrheit, die er lange übersehen hatte. Ein braunes und ein stechend blaues Auge. Etwas, das ihn von anderen unterschied. Etwas, das ihm half, Dinge zu sehen, die andere nicht sahen. Es war, als ob diese Augen ihm die Wahrheit offenbarten er konnte sie sehen, selbst wenn niemand sonst sie erkannte.

Jonas fühlte die Last der Verantwortung. Er konnte das Mädchen nicht mehr retten, aber er konnte ihre Geschichte aufdecken. Die Wahrheit hinter ihrem Tod lag irgendwo in den Geheimnissen der Stadt und er würde alles tun, um sie ans Licht zu bringen.

Mit einem festen Blick setzte er sich an seinen Schreibtisch. Das Tagebuch war der Schlüssel. Es war die Stimme des Mädchens, die ihn in diese Richtung geführt hatte. Sie hatte ihm alles gezeigt, was er wissen musste, um den Mord zu lösen.

Der Name "Liam" hallte in seinem Kopf wider. Er wusste, dass dies der Schlüssel war. Warum hatte das Mädchen Angst vor ihm? Und wer war er wirklich? Diese Fragen trieben ihn weiter.

Jonas begann, Nachforschungen anzustellen. Er durchsuchte alte Zeitungsartikel, befragte ältere Dorfbewohner und studierte das Tagebuch erneut. Doch überall stiess er auf Mauern des Schweigens. Einige wichen seinen Fragen aus, andere warnten ihn, sich nicht weiter in Dinge einzumischen, die ihn nichts angingen. Doch Jonas liess sich nicht beirren. Jedes Wort, jede Reaktion, jedes Zögern brachte ihn näher an die Wahrheit. Er fand heraus, dass Liam einst ein angesehener Mann im Dorf gewesen war, charmant, einflussreich, aber mit einer dunklen Seite, über die niemand sprechen wollte. Das Mädchen hatte ihn gefürchtet, und nun wusste Jonas auch warum.

Eines Abends, als der Regen gegen die Fensterscheiben prasselte, hörte er Schritte im Haus. Er wusste, dass er nicht allein war. Er folgte dem Geräusch, die Taschenlampe in der Hand, das Herz wild pochend. Die Schritte führten ihn zu einer Tür, die immer verschlossen gewesen war. Doch heute stand sie offen. Langsam trat er ein. Die Luft war stickig, Staub tanzte im Schein seiner Lampe. Und dann sah er ein altes, verblichenes Foto an der Wand, eingerahmt in Spinnweben. Das Mädchen. Neben ihr ein Mann mit kalten, stechenden Augen. Liam.

Plötzlich erklang ein Geräusch hinter ihm. Jonas drehte sich hastig um, doch es war niemand zu sehen. War es der Wind? Oder war er nicht allein? Er spürte, wie sich eine unsichtbare Kraft um ihn legte, ein Flüstern, ein Echo der Vergangenheit. Panik durchfuhr ihn, doch er zwang sich, ruhig zu bleiben. Das Tagebuch! Er zog es aus seiner Jackentasche und blätterte zu der letzten Seite. Der abgebrochene Satz, der ihn nicht losgelassen hatte, erschien ihm nun klarer. "Sie wissen-" Sie wussten es. Das ganze Dorf wusste es. Sie hatten geschwiegen. Und Liam hatte sie zum Schweigen gebracht.

Jonas wusste, was er tun musste. Am nächsten Morgen brachte er das Tagebuch zur Polizei. Er zeigte ihnen die Beweise, konfrontierte sie mit der Wahrheit, die sie so lange vergraben hatten. Alte Ermittlungen wurden neu aufgerollt. Der Name "Liam" war nicht vergessen. Es stellte sich heraus, dass er nie gefasst worden war er war verschwunden. Doch nun, da die Wahrheit ans Licht kam, würden sie ihn finden.

Tage vergingen, und die Albträume wurden seltener. Das Mädchen erschien ihm noch einmal, in einem letzten Traum. Doch dieses Mal lief sie nicht. Sie sah ihn an, ihre blauen Augen dankbar, friedlich. Dann verschwand sie. Jonas wusste, dass sie nun endlich Ruhe gefunden hatte.

Der Fall war beendet. Die Wahrheit war ans Licht gekommen. Und Jonas? Er wusste, dass sein Leben nie mehr dasselbe sein würde.

Doch es gab noch eine offene Frage: Wo war Liam jetzt? Jonas konnte das Gefühl nicht loswerden, dass diese Geschichte noch nicht ganz vorbei war. Die Albträume mochten verschwunden sein, doch eine Unruhe blieb in ihm zurück. Irgendwo dort draussen war er noch. Vielleicht nicht mehr derselbe Mann, aber noch immer ein Schatten der Vergangenheit.